
Nadine, wie sieht denn eine Trageerschöpfung überhaupt aus?
So pauschal, lässt sich das leider nicht beantworten, denn so unterschiedlich wie unsere Pferde in ihrem Exterieur sind, so unterschiedlich kann sich auch eine Trageerschöpfung äußern!
Zunächst würde ich gerne auf den Begriff der Trageerschöpfung oder auch Trageermüdung selbst eingehen. Was ist das denn überhaupt?
Meines Wissens nach hat Tanja Richter den Begriff der Trageerschöpfung geprägt.
Eine genaue Definition existiert bisher nicht, so dass jeder diesen Begriff etwas anders interpretiert. Teilweise wird der Symptomkomplex auch als „Topline Syndrome“ beschrieben. Ich persönlich mag den Begriff „Trageerschöpfung“ nicht besonders. Impliziert er doch, dass das Pferd zu viel „getragen“ hat, also mit Reitergewicht belastet wurde. Und dies muss überhaupt nicht zutreffend sein. Auch Pferde mit ungünstigen Exterieur können schon ungeritten trageerschöpft sein, aber dazu später mehr.
Hier folgt nun meine Erklärung, wie ich den Begriff verstehe.
Pferde verfügen über sogenannte Bewegungsmuskulatur und auch über Stabilisationsmuskulatur.
Die Stabilisationsmuskulatur befindet sich überwiegend sehr wirbelsäulennah, denn wie ihr Name schon vermuten lässt, dient sie der Stabilisation des ganzen Körpers.
Die großen fleischigen Muskeln können wir der Bewegungsmuskulatur zuordnen. Ihre Aufgabe ist es vor allem in der Bewegung rhytmisch an- und abzuspannen. Im Unterschied zur schnell ermüdenden Bewegungsmuskulatur kann die Stabilisationsmuskulatur über lange Zeit ermüdungsarm arbeiten.
Anders als wir Menschen haben Pferde kein Schlüsselbein. Ihr Rumpf ist statt dessen faszial zwischen den Schultern in einer Art Trampolin- Konstruktion aufgehangen. Diese Aufgabe übernimmt überwiegend der wichtigste Rumpfträger, der Musculus Serratus ventralis (gesägter Muskel). Dieser Muskel hat einen hohen sehnigen Anteil, was darauf hindeutet, dass er Halte- und Stabilitätsfunktion erfüllen soll und relativ ermüdungsarm arbeitet kann. Kann das Pferd diesen Muskel nun, warum auch immer, nicht ansteuern, so müssen andere Muskeln einspringen, die für diese Aufgabe als Bewegungsmuskeln nicht geeignet sind. Verspannungen und kompensatorische Bewegungen sind die Folge und das Pferd befindet sich häufig in einer Art Abwärtsspirale, welche in einer sogenannten myofaszialen Dysfunktion enden kann.

Das Paradebeispiel eine Trageerschöpfung kennt sicherlich jeder von euch: das Pferd mit der offensichtlich kaum vorhandenen Rückenmuskulatur, mit den Kuhlen um den Widerrist und der sich deutlich abzeichnenden Wirbelsäule.
Oder im Schlimmsten Fall, ein Pferd mit Senkrücken (hier befindet sich die Wirbelsäule bereits in Extension).

Aber eine Trageerschöpfung kann sich auch ganz anders äußern, nämlich zum Beispiel in einem rückständigen Stand der Vorhand oder auch wenn das Pferd vorne sehr eng steht. Diese Stellungsfehler werden durch einen hypertonen (verspannten) breiten Rückenmuskel (Musculus latissimus dorsi) oder/und durch eine verspannte Brustmuskulatur (Pectoralis- Muskulatur) hervorgerufen. Diese Muskelbereiche verspannen besonders schnell, wenn sich das Pferd bereits in einer Kompensation befindet.
Wir erinnern uns: das Pferd müsste den Musculus Serratus vetralis (sowie die weitere Stabilisationsmusklulatur) ansteuern können, um seinen Rumpf zu tragen. Diese Muskeln müssten also in Funktion sein. Ist der Muskulus Serratus ventralis und die weitere Stabilisationsmuskulatur aber in Unterfunktion und kann das Pferd diese nicht ansteuern, so muss der Job von anderen Muskeln erledigt werden, die eigentlich nicht dafür gemacht sind.

Versucht das Pferd nun seinen Rumpf über die Bewegungsmuskulatur zu stützen, gerät diese in eine dauerhafte Verspannung. Die Schulterblätter wirken dann wie mit einer Wäscheklammer oben am Rumpf angepinnt. Super schlau von der Natur eigentlich, denn sonst würde der Rumpf weiter absacken.
Problematisch ist es aber daher, dass zum einen das kompensatorische Bewegungsmuster zu weiterem Verschleiß führen wird, zum anderen weil Muskeln dauerhaft angespannt sind, die als Bewegungsmuskulatur garnicht dafür gemacht ist. Diese Verspannungen sind immer schmerzhaft für das Pferd und Pferde im Schmerz werden von und häufig als verhaltensauffällig wahrgenommen.

Weitere Exterieurmerkmale an denen du eine Trageerschöpfung erkennen kannst:
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der Widerrist ist der höchste Punkt aber dein Pferd baut keine Muskulatur auf und hat Kuhlen neben dem Widerrist
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Axthieb (sofern nicht Exterieurbedingt)
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deutlich sichtbar nach unten abgesackte Halswirbelsäule, der typische Unterhals ist sichtbar und verhärtet
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aber auch: der Widerrist wirkt zwischen den Schultern abgesackt, die Kruppe wirkt höher als der Widerrist (das erwachsene Pferd sieht „überbaut aus“)
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das Brustbein steht deutlich hervor
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rückständige Vorhand
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bodenenger Stand der Vorhand
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Innenrotierte Voderbeine (aus Sicht von vorne)
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„Heubauch“
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Wirbelsäule in Extension
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usw.
Alle diese Merkmale können, müssen aber nicht einzeln oder in verschiedenen Kombinationen auftreten.
Auffälligkeiten im Gangbild:
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bodenenge Fußung der Vorhand
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der Rücken schwingt nicht (weder nach oben, noch nach unten oder auch nur nach unten)
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das Pferd zeigt keine Rotationsbewegung im Rumpf
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die Bewegung scheint „irgendwo stecken zu bleiben“
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das Pferd hat wenig, bis keine Raumgriff, ein Recoil über die Faszien ist nicht zu sehen (kein "bouncen")
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das Pferd rennt oder hat keine Bewegungsfreude
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das Pferd kann sich nicht fallen lassen und läuft „wie eine Giraffe“
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das Pferd ist „tolpatschig“, hat kein Gespür für seinen Körper
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das Pferd kann beim reiten nicht über den Rücken gehen
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das Pferd ist „unrittig“
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das Pferd zeigt sich widersetzlich
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das Pferd lässt sich nicht wenden
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das Pferd wirkt unkoordiniert
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das Pferd ist zügellahm
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usw.
Mögliche Konsequenzen einer Trageerschöpfung:
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wiederkehrende Sehnenreizungen oder gar Schäden
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Kissing Spines
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Überlastungsschäden der Vorhand
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ungeklärte Lahmheiten
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Knieprobleme
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idiopathisches Head- Shaking
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immer wiederkehrende Blockaden insbesondere im Bereich des CTÜ oder auch im Ledenbereich
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Probleme mit der Atmung
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Stoffwechselprobleme
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Ataxie
- aber auch ängstliches und nervöses Verhalten ohne erkennbare Ursache
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usw.
Alle diese Aufzählungen sind nicht abschließend. Vor allem hinter den gesundheitlichen Problemen kann sich selbstverständlich auch eine andere Ursache verbergen, die unbedingt gefunden und möglichst abgestellt, aber zumindest behandelt werden sollte. Hierzu solltet ihr unbedingt euren Tierarzt mit ins Boot holen, um zunächst ausschließen zu können, dass euer Pferd akute tierärztliche Hilfe und Behandlung benötigt.
Die Entstehung einer Trageerschöpfung ist ein multifaktorielles Geschehen, was das Erkennen der Ursache häufig erschwert. Das bedeutet, häufig sind es viele kleine Sachen, die zur Ausbildung einer Trageerschöpfung führen und nicht diese eine große Sache. Daher ist es notwendig nicht nur eine Kleinigkeit im großen Ganzen zu verändern, sondern das Pferd wirklich ganzheitlich zu betrachten. So kann zum Beispiel eine schlechte Hufbearbeitung ebenso zur Ausbildung einer Trageerschöpfung beitragen, wie ein unpassender Sattel. Ändere ich nur einen Punkt, wird das Pferd es schwer haben, langfristig aus der Trageerschöpfung heraus zu finden. Manche Pferde sind auch von ihrem Gebäude schon so ungünstig konstruiert, dass sie auch ungeritten schon eine starke Abwärtshaltung aufweisen und schnell eine Trageerschöpfung entwickeln.
Wohin man sieht, mit geschultem Blick wird man eine Trageerschöpfung (in unterschiedlichen Abstufungen) überall sehen, sie ist weitaus verbreiteter als man annehmen könnte.
Insbesondere bei wiederkehrenden Problematiken lohnt es sich daher, das bisherige Training zu hinterfragen.
Ich möchte mit meinem Beitrag dafür sensibilisieren, dass Trageerschöpfung viele Gesichter haben kann und dass es genauso viele Wege aus der Trageerschöpfung gibt.
Das Gute ist nämlich: das Exterieur ist durch Training auch positiv veränderbar, wenn man weiß wie!